Die Armenischen Kulturtage Stuttgart 2024 stehen unter dem Leitmotiv „Verwurzelt in der Vergangenheit, offen für die Zukunft“ – ein Thema, das nicht nur den historischen Reichtum Armeniens würdigt, sondern zugleich die Brücke zur Gegenwart und Zukunft schlägt. Diese Kulturtage sind ein Fest der Begegnung zwischen Tradition und Wandel, zwischen dem Gedächtnis einer alten Zivilisation und dem Aufbruch in eine neue Epoche. Armenien, mit seiner über tausendjährigen Kultur, erinnert uns daran, dass die Vergangenheit nicht in die Vergessenheit führen muss, sondern als Quelle der Erneuerung und der kreativen Impulse für die Zukunft dient.
Armeniens kulturelle Wurzeln
Armenien blickt auf eine der ältesten und bedeutendsten Kulturen der Menschheit zurück. Seit Jahrtausenden war dieses Land an der Kreuzung von Zivilisationen, beeinflusst von Ost und West, Nord und Süd. Doch trotz der geopolitischen Umwälzungen, die es durchlebte, hat sich die armenische Kultur stets behauptet. In der Architektur, der Sprache, der religiösen Praxis und den Künsten spiegelt sich dieser unvergleichliche Überlebenswille wider. Es ist eine Kultur, die – wie Peter Burke in seiner „Kulturgeschichte“ beschreibt – durch „Haltung und Eleganz“ charakterisiert ist, eine Kultur, die in der Lage ist, Tradition mit einer sich ständig verändernden Welt zu versöhnen.
Die Einführung des Christentums im Jahr 301, das Schaffen eines eigenen Alphabets durch Mesrop Maschtoz im Jahr 415 und die Kirchenmusik von Komitas sind nur einige der kulturellen Eckpfeiler, die Armenien zu einem einzigartigen Ort in der Weltgeschichte gemacht haben. Egon Friedell beschrieb die Kulturgeschichte Armeniens in einem globalen Kontext als einen jener seltenen Momente, in denen das Lokale und das Universelle ineinandergreifen und eine neue Form des kulturellen Ausdrucks schaffen. Armenien war und ist eine solche kulturelle Schnittstelle – eine Brücke zwischen Antike und Moderne, zwischen Orient und Okzident.
Ein Land im Wandel –
Armenien heute
Doch Armenien ist nicht nur ein Land der Vergangenheit. Heute befindet es sich an einem entscheidenden Punkt seiner Entwicklung. Nach den politischen Umbrüchen der letzten Jahre strebt das Land entschlossen nach einer demokratischen Zukunft, in der Freiheit, soziale Gerechtigkeit und die Achtung der Menschenrechte im Zentrum stehen. Die „Samtene Revolution“ von 2018 hat deutlich gemacht, dass die armenische Gesellschaft aufgerufen ist, sich neu zu erfinden. Dieser Prozess ist umstritten, komplex und verlangt Mut, sowohl von den politischen Akteuren als auch von den Bürgerinnen und Bürgern selbst. In der fortlaufenden Suche nach demokratischer Konsolidierung zeigt sich Armenien als Land, das trotz seiner historischen Verwurzelung offen für den Wandel ist.
Lutz Raphael spricht in seinem Werk „Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme“ von der Notwendigkeit, historische Erfahrungen und das Potenzial moderner Gesellschaften miteinander zu verweben. Armenien ist ein Paradebeispiel dafür: ein Land, das seine tiefen Wurzeln bewahrt, während es gleichzeitig die Tore zur globalen Welt öffnet. Die Frage, wie ein kleiner Staat in einer globalisierten Welt überleben kann, stellt sich Armenien in all ihrer Dringlichkeit. Doch gerade in der Verbindung von Tradition und Modernität liegt die Antwort – eine Antwort, die tief in der armenischen Kulturgeschichte verankert ist.
Die Armenische Gemeinde in Baden-Württemberg:
Tradition im Dialog mit der Zukunft
Auch die armenische Gemeinde hier in Baden-Württemberg verkörpert diese einzigartige Verbindung von Vergangenheitsbewusstsein und Zukunftsorientierung. Seit Jahrzehnten ist sie ein lebendiger Teil der regionalen Gesellschaft und trägt entscheidend zur kulturellen Vielfalt bei. Sie bewahrt und pflegt die armenischen Traditionen – sei es durch kirchliche Feste, kulturelle Veranstaltungen oder durch die Weitergabe der Sprache an die nachfolgenden Generationen. Doch gleichzeitig ist sie ein dynamischer Akteur im interkulturellen Dialog und in der gesellschaftlichen Integration.
Wie Ute Daniel in ihrem „Kompendium der Kulturgeschichte“ betont, ist die Kultur nicht starr, sondern entwickelt sich fortwährend weiter – eine lebendige und flexible Praxis, die immer wieder neue Formen annimmt. Die Armenische Gemeinde in Baden-Württemberg ist ein gelungenes Beispiel dafür, wie Tradition und Innovation Hand in Hand gehen können. Sie schafft es, ein Bewusstsein für die tiefen kulturellen Wurzeln zu bewahren, ohne dabei den Blick für die Herausforderungen und Chancen der Zukunft zu verlieren. In ihrem Engagement zeigt sich der Wille, Brücken zu bauen – zwischen Armenien und Deutschland, zwischen den Generationen und den Kulturen.
Ein Raum für Begegnung und Reflexion
Die Armenischen Kulturtage Stuttgart sind mehr als nur ein Fest. Sie sind ein Raum, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander in den Dialog treten. Sie bieten die Möglichkeit, die reiche Geschichte Armeniens nicht nur passiv zu erleben, sondern aktiv an ihrer Weiterentwicklung teilzuhaben. Der interkulturelle Austausch, der hier in Baden-Württemberg durch die armenische Gemeinde ermöglicht wird, ist ein Modell für eine Zukunft, in der kulturelle Vielfalt nicht nur toleriert, sondern als Quelle von Kreativität und gesellschaftlichem Fortschritt geschätzt wird.
Mit den Armenischen Kulturtagen Stuttgart laden wir Sie ein, diesen Raum zu betreten. Erleben Sie eine Kultur, die stolz auf ihre Vergangenheit ist, aber nicht stehen bleibt – eine Kultur, die ihre Wurzeln ehrt, während sie mit offenem Geist in die Zukunft blickt. Diese Kulturtage sind eine Einladung, sich auf eine Reise zu begeben, die uns alle bereichern wird: eine Reise, die uns zeigt, wie Vergangenheit und Zukunft einander durchdringen, wie Tradition und Wandel miteinander verschmelzen können.
Pfr. Dr. Diradur Sardaryan
Gemeindepfarrer der Armenischen Gemeinde
BAden-Württemberg