Erzähl es deinen Kindern…

Werte. Wissen. Traditionen.

Von Pfr. Dr. Diradur Sardaryan

Ein Kind blickt auf, während der Großvater von Bergen erzählt, die einst Heimat waren, von Stürmen, die Familien zerrissen. Diese Szene steht am Anfang der Armenischen Kulturtage in Stuttgart, die vom 16. bis 26. Oktober unter dem Motto stehen: „Erzähl es deinen Kindern… Werte. Wissen. Traditionen.“ Der Prophet Joel lieferte die Inspiration, doch die Dringlichkeit stammt aus unserer Zeit: In einer Ära, in der Algorithmen schneller arbeiten als das Gedächtnis, wird die Weitergabe von Erfahrung zur bewussten Entscheidung.

Für Armenier in Deutschland ist das mehr als kulturelle Nostalgie. Es ist die Frage nach dem, was bleibt, wenn Geschichte zum Gegenwind wird. 1915 vernichtete das Osmanische Reich systematisch über 1,5 Millionen Armenier. Deutschland, damals Verbündeter der Täter, schwieg zu den Zeugenberichten seiner eigenen Diplomaten. Erst 2016 fand der Bundestag späte Worte der Anerkennung – ein Akt, der die Verwandtschaft zum Holocaust nicht leugnet: Beide Verbrechen lehren, dass Menschenrechte keine abstrakten Güter sind, sondern zerbrechliche Schutzwälle gegen die Barbarei.

Heute leben etwa 60.000 Armenier in Deutschland, viele Nachkommen jener Flüchtlinge von damals. Ihre Präsenz durchwebt ein Land, das selbst aus Trümmern auferstanden ist. Doch die Geschichte ruht nicht. Im Kaukasus verspricht ein US-vermitteltes Friedensabkommen vom August 2025 Normalisierung zwischen Armenien und Aserbaidschan, während die Vertreibung von über 100.000 Menschen aus Nagorno-Karabakh 2023 nachwirkt. Hoffnung und Misstrauen ringen miteinander.

In Deutschland zeigen sich ähnliche Spannungen. Menschenrechtsorganisationen sprechen weltweit von steigender Gewalt. Der Krieg in der Ukraine, die Hungersnot in Gaza, die Situation Asylsuchender weltweit – es sind Themen, zu denen wir nicht schweigen dürfen. Migration und Diskriminierung fordern auch die armenische Gemeinschaft heraus. Integration gelingt oft, doch Vorurteile lauern. Als Präsident Steinmeier im März 2025 in Eriwan die Bande zu Armenien stärkte, wurde das hier durchaus bemerkt – als Signal, aber auch als Gradmesser für die eigene Stellung in der deutschen Gesellschaft.

Was also erzählen wir unseren Kindern? Zunächst: die Wahrheit. Nicht die weichgespülte Version der Geschichte, sondern ihre rauen Kanten. Wir erzählen von Großmüttern, die mit leeren Händen ankamen und dennoch Hoffnung säten. Von Vätern, die ihre Sprache verloren und ihre Würde behielten. Von einer Identität, die nicht im Pass steht, sondern in der Art, wie man aufsteht, wenn man gefallen ist.

Wir erzählen aber auch von der Verantwortung, die aus dem Wissen erwächst. Wer die Mechanismen der Ausgrenzung kennt, kann sie erkennen, bevor sie greifen. Wer erfahren hat, wie schnell Nachbarn zu Fremden werden, wird selbst zum Brückenbauer. Das sind keine abstrakten Lektionen – das sind Überlebenswerkzeuge für eine Welt, die noch immer zu Gewalt neigt.

Und wie gelingt dieses Gespräch der Generationen? Hier zeigt Baden-Württemberg einen möglichen Weg. Das Land, das sich Innovationsregion nennt, experimentiert längst mit neuen Formen des kulturellen Dialogs. In Stuttgart entstehen Begegnungszentren, die mehr sind als Versammlungsräume: Sie werden zu Laboratorien des Zusammenlebens. Wenn armenische Frauen ihre Nachbarn das Zubereiten von Dolma lehren, entstehen Verbindungen jenseits der Sprache. Wenn Jugendliche mit Migrationshintergrund ihre Familiengeschichten erzählen, wird Geschichte plötzlich greifbar.

Die Landesregierung hat das erkannt. Programme wie „Vielfalt gefällt“ schaffen Räume, in denen Traditionen nicht musealisiert, sondern gelebt werden. Hier setzt auch unsere Kirchengemeinde an: Nicht mit belehrenden Vorträgen, sondern mit Begegnungen, mit Gesprächen, die beim Tee beginnen und bei grundsätzlichen Fragen sich weiter entfalten.

Kultur wird so zur Vermittlerin zwischen den Welten. Sie kann niederschwellig sein – ein gemeinsames Mahl verbindet ohne große Worte. Sie kann aber auch akademisch werden: Wenn Duduk-Klänge oder armenischer Gesang auf Bach treffen, entstehen Momente der Verständigung, die tiefer reichen als Diskussionen. Historiker und Schriftsteller debattieren über Literatur, Erinnerung und Menschenrechte, weben alte Traditionen in moderne Ethik ein.

Der entscheidende Punkt aber ist der Mut zur Unperfektion. Wie gelingen heute also Generationengespräche? Ganz bestimmt nicht in idealisierten Familienszenarios, sondern im Alltag, mit Widersprüchen und Missverständnissen. Wenn der Enkel die Sprache der Großmutter nicht mehr spricht, aber ihre Rezepte kocht. Wenn die Tochter die Religion der Eltern hinterfragt, aber ihre Werte übernimmt und keine Angst hat als armenische Christin in Deutschland zu leben. Wenn der Vater seine deutsche Heimat liebt, ohne die armenische zu vergessen.

Für eine Kirchengemeinde wie die unsere bedeutet das eine besondere Verantwortung. Die Armenische Apostolische Kirche dient der Diaspora seit Jahrhunderten als Anker – nicht nur im Gebet, sondern bei der Weitergabe von Identität. Märtyrererinnerungen werden zu Hoffnungsquellen, Rituale zu Akten des Glaubens an die Kraft des Miteinanders. Aber wir wissen auch: Religion kann nur dann verbinden, wenn sie Raum lässt für Zweifel und Fragen.

Die Kulturtage in Stuttgart sind deshalb mehr als ein kulturelles Event. Sie sind ein Experiment: Kann eine Minderheit ihre Geschichte erzählen, ohne sich abzugrenzen? Kann Erinnerung heilsam sein, ohne nostalgisch zu werden? Kann Tradition lebendig bleiben, ohne starr zu werden?

Die Antworten finden wir nur gemeinsam. Kommen Sie, hören Sie zu, gestalten Sie mit. Traditionen sind keine Relikte – sie sind Samen für eine gerechtere Welt. Und manche Geschichten verlangen nicht nur danach, weitererzählt zu werden. Sie wollen gelebt werden, hier und heute, von Kindern, die zwischen den Welten zu Hause sind.